Plicadekoration
Dekorationen – meist nur einfache Scheiben – oberhalb der Siegelanbringung auf der Plica. Ab 1320 beginnt beginnt eine zaghafte Entwicklung hin zu mehr Dekor, ab den dreißiger Jahren tritt figürlicher Schmuck auf (Abb. 1). Als ikonographisch deutbares Zeichen erstmals bei Jean II (le Bon, 1350-2364) zu finden, hat die Plicadekoration ihre Hochzeit bei Charles V (le Sage, 1364-1380).
Ghislain Brunel war der erste, dem das Phänomen aufgefallen war.[1] Er beobachtete die Zeichen auch auf nicht illuminierten Urkunden ab 1297-98. Zunächst handelte es sich dabei um Kreise oder Punkte.[2] Ähnliches lässt sich auch vom Bestand der illuminierten Urkunden sagen, mit einem ersten Beispiel vom Juni 1299. Zwar sind Siegel auf Urkunden schon lange Routine, doch wirkt es, als würde zunächst mit diesen Markierungen tatsächlich eine Hilfestellung für die Siegelanbringung geleistet.
Elf Jahre zuvor allerdings findet sich bereits eine Ausnahme, der alles Akzidentielle mangelt: Eine Vereinbarung zwischen Philippe IV(le Bel, 1285-1314) und seiner Gemahlin Jeanne de Navarre vom Februar 1288 ist auf der Plica mit zwei wappenähnlichen Schilden – im Falle des Königs links neben, im Falle der Königin über der Siegelanbringung versehen worden.[1] Zunächst scheint es, als seien diese Zeichnungen tatsächlich eine Erinnerung, dass sowohl das Siegel des Philippe und das der Jeanne anzuheften ist. Insbesondere bei der Urkunde vom Juni 1290[2] ist die Darstellung sicher bewusst eingesetzt – dort ist für das Königssiegel eine Fleur-de-lys und für die Königin ein Wappen gezeichnet – weshalb man annehmen darf, dass zu diesem Zeitpunkt bereits das Potential einer Plicadekoration entdeckt war.
Doch sind es zu diesem Zeitpunkt meist einfache Kreise; erst im März 1310 (v. st.) kann man ein zaghaftes darüber Hinausgehen (eine Scheibe mit Kern) bei einer Urkunde beobachten, die durch die sorgfältige Zeichnung der Ph-Initialen mit einer fein ausgearbeiteten Fleur-de-lys auffällt. Mit Rauten im März 1321 kommt eine weitere graphische Variante bei einer Urkunde hinzu, die dei der Initiale erstmals die Krone bei der Abbreviatur verwendet.
Im Januar 1331 erscheinen erstmals zoomorphe Elemente (zwei
Löwenmasken); sie entstammen dem Repertoire des Zeichners der Douaires, dem profiliertesten Schreiber/ Zeichner in
der Kanzlei von Philippe VI (de Valois, 1328-1350). Im November 1332 kommen Blätter hinzu; im Dezember 1334 sind es Kleeblätter am Stiel oder Blumen.
Insbesondere die beiden letzten Beispiele sprechen dafür, dass diese Motive
keine inhaltliche Bedeutung haben, sondern auf die Kreativität des Zeichners
zurückzuführen sind. Dabei beobachtet man wie so häufig die Übernahme von
anderen Zeichnern: Im April 1340 nutzt ein weiterer Löwenmaske und Kleeblatt (siehe z. B.
auch 6. Juli 1339).
Eine ikonographische Bedeutung der Plicadekoration mag erstmals bei dem
von Jean le Bon unterzeichneten Hochzeitsvertrag seines Sohnes Louis d’Anjou
mit Jeanne d’Aragon vom 12. September 1352 vermutet werden, wo drei Endlosknoten oberhalb
der Siegelanbringung erscheinen. Charles V, noch als Regent im März 1359,[3] greift
die Fleurs-de-lys bei der Plicadekoration wieder auf; dort wird der
ansonsten heitere Ton der Figureninitialen durch die staatstragenden Symbole
auf der Plica deutlich ernster (auch für eine Urkunde Jean le Bons kommen
Fleurs-de-lys im Februar 1361 zum Einsatz).
Wie insgesamt unter Charles V die Urkundenillumination eine grosse Blüte erfuhr, sind auch die Plicadekorationen entsprechend vielfältig und werden auch als reine Dekorationen mit besonderer Sorgfalt ausgeführt: So beispielsweise am 27. Juli 1367 für Chartres, im November 1369, im Mai 1370 oder im Januar 1372. Ein herausragendes Stück ist am 15. Januar 1375 ausgestellt worden, das anstelle von stilisierten Fleurs-de-lys naturalistisch gezeichnete Lilienblüten wiedergibt.
Während der Regentschaft von Charles VI (le Fou, 1380-1422) lässt die
Innovationskraft bei der Plicadekoration merklich nach.[4] Bisher
ist erst eine Urkunde bekannt geworden, deren Dekoration auf verblüffende Weise
anthropomorphes Sehen begreiflich macht: Die einfachen Dekorationen aus
Scheiben mit Kernen sehen zusammen mit den Siegelschnüren aus wie ein
Gesicht, wie z. B. auf der Urkunde vom Januar 1332 (v. st.). Bei der Urkunde von 1381 ist das umgesetzt,
indem Augen und Brauenbögen neben die Löcher zur Siegelanbringung gezeichnet
worden.
Gewissermassen ausserhalb – weil nicht die Siegelanbringung, sondern der Kanzleivermerk illuminiert wird – steht die farbige Wappendarstellung auf der Plica der Urkunde von Blanche de Navarre für Saint-Denis vom Juni 1372.
Zwei weitere Urkunden zeigen, dass – aus unterschiedlichen Motiven – selten
ausserhalb der königlichen Kanzlei mit Plicadekoration gearbeitet wurde. Im
Februar 1371 stellt CharlesII de Navarre (le Mauvais, 1349-1387)
eine Urkunde für Saint-Cyr de Friandel aus, auf der neben dem linken Loch
für die Siegelanbringung ein teuflisch aussehendes Profil nach links
gezeichnet ist. Und am 4. Oktober 1394 sichern die Zölestiner Frankreichs dem Herzog von
Berry und seiner Frau Teilhabe an Messen und Gebeten zu.[5] Diese,
mit ausserordentlicher Klarheit gestaltete Urkunde ist auch die einzige, die
den durch die Dekoration erzeugten Blickfang mit Schrift verbindet und somit
die Plicadekoration auf eine andere Bedeutungsebene hebt.
Gabriele Bartz
(Stand: Januar 2023)
[1] Brunel, Images du pouvoir, no. 7, S. 83, Brunel, Entre art et pouvoir, 2013, S. 48 sowie Brunel, Chartes, 2017, S. 159 ff. Siehe auch meinen Blogbeitrag. Tatsächlich finden sich Kreise bereits im Juni 1296 (z. B. Brügge, AV, charte 92; vgl. docling R1296063201.
[2] Brunel, Chartes, 2017, S. 159.
[3] Brunel, Chartes, 2017, S. 159 f., Anm. 20.
[4] Siehe auch Brunel, Chartes, 2017, S. 160.
[5] Brunel, Chartes, 2017, S. 160.