Zeichner mit dem Wildschwein
Der erste Schreiber/ Zeichner in der französischen Königskanzlei, der
konsequent figurative Elemente in seine Initialgestaltung einbringt.
Besonders charakteristisch sind die mit einem gezeichneten Wildschwein auf
dem Balken über dem „h“ (Abb. 1, Dezember 1281).
Brunel hatte diesen Zeichner entdeckt. Er erwog, wie dieser Schreiber in die
königliche Kanzlei gelangt sein kann: Der Abt von Saint-Denis, Mathieu de
Vendôme, möchte ihn dem König empfohlen haben.[1] Diese
Konstruktion erweist sich aber angesichts der Neufunde dieses Zeichners aus
dem Jahr 1273 als wenig wahrscheinlich, denn im Juli diesen Jahres (Abb. 2, Juli 1273) arbeitete er für Foulque de Macheleson und Charles I
d’Anjou (letzter Sohn des Königs Louis VIII und Blanche de Castille), somit
bereits im Umfeld der königlichen Familie. Mathieu de Vendôme seinerseits
gehörte zum engsten Kreis um Louis IX (Saint-Louis, 1226-1270).
Die Initialen des Zeichners mit dem Wildschwein sind auch ohne das Tier
leicht zu erkennen. Seine U-Initiale (Abb. 2, Juli 1273) wird im Binnenfeld mit unterschiedlichen
Federwerkdekorationen geschmückt und von einem charakteristischen Balken
überhöht, dessen Enden in Halbpalmetten und Voluten enden. Der Balken wird
wie die Begleitlinien aus Linienpaaren gebildet, die Zwickel werden gerne
mit schraffierten Scheiben gefüllt. Diese Grundstrukturen kann man bereits
im September 1259 bei einer Urkunde von Mathieu de Champs beobachten;
vielleicht ist der Wildschweinzeichner doch aus klerikalem Umfeld in die
königliche Kanzlei gelangt.
Die figurative Gestaltung beginnt mit einer Profilmaske im Binnenfeld im November 1276; am markantesten ist das Wildschwein, das er auf einem Balken über dem „h“ platziert (Abb. 1, Dezember 1281). Brunel vermutete, dass es sich bei dem Wildschwein um ein Emblem für Philippe III le Hardi handelt.[2]
Seine frühen Arbeiten, die die Gestaltung einer U-Initiale erforderten (Abb.
1, das früheste Beispiel vom Juli 1273), zeigen bereits den charakteristischen Balken; dort
werden ab November 1276 schraffierte Scheiben in die Zwickel gesetzt. Auf der
Urkunde vom Februar 1280 taucht erstmals das „Ph“ zu Beginn auf; wie ein
typologisches Rudiment erscheint der für den Buchstaben „h“ unsinnige
Balken. Im Dezember 1281 findet sich dann der erste Keiler, der im November 1283, März 1284 und Januar 1285 wiederholt wird. Das Erscheinen dieses Borstenviehs hat
kaum textliche Gründe;[3] auch
findet es zu selten Verwendung, um als emblematisches Tier von Philippe III
bezeichnet werden zu können. Darüber hinaus taucht es ein weiteres Mal –
wenn auch wohl nicht vom selben Zeichner und in verballhornter Form – auf
einer Urkunde vom August 1286 auf; da war Philippe IV (le Bel, 1285-1314) bereits
König. Diese Urkunde zeigt somit, dass zeichnerische Kontinuitäten wichtiger
waren als der Wechsel einer Herrschaft.
Seine Dekorationen der Königsabbreviatur waren so erfolgreich, dass ab August 1286 auch andere Schreiber mit diesen Elementen experimentierten (Erster und zweiter Nachfolger des Zeichners mit dem Wildschwein).
[1] Brunel, Entre art et pouvoir 2013, S. 68 f.
[2] Brunel, Entre art et pouvoir 2013, S. 68.
[3] Bei der Urkunde vom November 1283 geht es zumindest um einen Wald.