Charter: Illuminierte Urkunden 1230-04-22_Assisi
Signature: 1230-04-22_Assisi
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1230-04-22, Rom
Werner Maleczek
Inc.: Is qui ecclesiam suam
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Assisi, Archivio storico della Basilica e del Sacro Convento di San Francesco (ASC), Bollario I/11
Assisi, Archivio storico della Basilica e del Sacro Convento di San Francesco (ASC), Bollario I/11
Bleibulle nicht erhalten
Material: Pergament
- Materielle Beschreibung:
Päpstliches Privileg mit stark vergrösserter, in Tinte gezeichneter und mit einfachen Aussparungen versehener Initiale G(regorius) mit Fleuronnée-Besatz und historisierter Darstellung im Binnenfeld vor mit kleinen Kreisen besätem Grund:
Mittig thront frontal der Aussteller mit liturgischem Gewand (mit klar erkennbarem Pallium) und kegelförmiger Tiara, in einer Hand hält die thronende Figur ein Buch, die andere ist segnend erhoben. Der einfache Kastenthron ist mit einem Polster ausgestattet und steht auf einem Halbbogen. Unter diesem sind drei klein dargestellte Mönche zu erkennen, die ihre Hände zum herrscherlich thronenden Papst erheben. Einer greift zur Schuhspitze Gregors und ist im Begriff dessen Fuss zu küssen.
Hauptmotiv des Fleuronnée sind zumeist sehr langstielige Halbpalmetten. Das Ornament begleitet die Konturen des Buchstabenkörpers innen und aussen. Aussen greifen viele der langstieligen Halbpalmetten in das Umfeld der Initiale aus. Charakteristisch ist, dass der gebogte Palmettenrand jeweils einen stark verlängerten "Finger" ausbildet. Mittig rechts hängt an diesem Finger ein Traubenmotiv. - Die erste Zeile ist in typischer Elongata geschrieben, deren Oberlängen zusätzlich deutlich verlängert sind.
Der Anfang des Urkundentextes (nach dem Protokoll, das die erste Zeile füllt) wird von einer kleinen vollfarbigen Lombarde I(s qui ecclesiam) gebildet, die mit Palmettenfleuronnée besetzt ist. Einige weitere einzeilige vollfarbige Lombarden mit etwas Fleuronnée markieren wichtige Texteinschnitte. - Urkundenspezifischer Dekor des Eschatokolls: Rota, Bene-valete und Signum-Zeichen der Kardinalsunterschriften.
- Stil und Einordnung:
Stellung des Zeichners innerhalb der päpstlichen Kanzlei
Der hier tätige Künstler ist sowohl für das Ornament als auch für die Figur verantwortlich; es gibt weder im Linienduktus, der Stärke der Linien noch bei der Farbe der Tinte irgendwelche Unterschiede. Auch das Fleuronnée der kleinen, in den Text eingestreuten Initialen ist identisch. Diese Beobachtungen sprechen dafür, dass Schreiber und Zeichner dieselbe Person waren.
Dieser Zeichner tritt auch in den Registerbänden auf: Man vergleiche etwa Rom, Città del Vaticano, Archivio secreto vaticano, Reg. vat. 15 (Gregor IX., 4. und 5. Jahr [19. März 1229 bis 18. März 1231], fol. 65r), wo der Beginn des 5. Pontifikatsjahres mit einer Initiale mit einer ganz eng verwandten Figur hervorgehoben ist. Vor allem das frontale Gesicht, die Tiara und die Gewandgestaltung von den Knien abwärts sowie die Haltung der Füsse sind sehr gut vergleichbar.
Zum Registerband vergleiche Marta Pavón Ramírez, L'illustrazione dei registri vaticani nella prima metà del duecento, in: Silvia Maddalo, Eva Ponzi (Hgg.), Il libro miniato a Roma nel duecento. Riflessioni e proposte 1, Rom 2016, S. 23-45 und Fig. 1-15, bes. S. 31-33, 43 und Fig. 13 (fol. 65r), und Friedrich Bock, Kodifizierung und Registrierung in der spätmittelalterlichen kurialen Verwaltung. Ein Immediatforschungsbericht über die päpstlichen Register, in: Archivalische Zeitschrift 56 (1960), S. 11-75, bes. S. 35f. (jeweils mit Hinweisen auf weitere Initialen im Register).
Eine vom Figuren- und Gewandstil ähnliche, aber von der Haltung abweichende Figur auch in Reg. vat. 17, fol. 1r (Pavón Ramírez, Fig.14: 7. Pontifikatsjahr [1232/33]). Pavón Ramírez, S. 38, nimmt an, dass der Zeichner dieser beiden Initialen auch für die berühmte Darstellung Innocenz' III. (Reg. vat. 5, fol. 72r: Pavón Ramírez, Fig. 9) verantwortlich sei. Mir erscheint dies aus stilistischen Gründen wenig plausibel. Worin Bock, S. 36, jedoch recht zu geben ist, ist, dass nicht ein Portrait des ausstellenden Papstes, sondern vielmehr ein Bild eines idealen (und damit vergleichsweise jugendlichen) Papstes wiedergegeben ist. Gregor war, als die hier behandelte Urkunde ausgestellt wurde (bzw. sein Abbild in die Register gezeichnet wurde), bereits weit über 60 Jahre alt. - Der ornamentale Dekor erlaubt es, Parallelen sowohl in den Registerbänden aber auch in Urkundenausfertigungen zu finden. Bezeichnender Weise sind die beiden oben als Vergleich für die Figur benannten Initialen zwar grundsätzlich durchaus verwandt, die Motivübereinstimmungen im Bereich des Ornaments sind jedoch nicht so gross, dass man damit die sich aus dem Figürlichen ergebende Handgleichheit zusätzlich absichern könnte. Es ergibt sich jedoch auch kein zwingendes Argument gegen die Ausführung der drei historisierten Initialen von einer Hand.
Der Aufwand, der bei den Urkundenausfertigungen während des Pontifikats Gregors IX. getrieben wurde, war im Schnitt deutlich höher als davor und auch höher als bei seinen Nachfolgern. Schon 1229 April 5 tritt im Fleuronnée eines Privilegs für Kloster Kaufungen - aus heutiger Sicht (September 2023) erstmals in einer Papsturkunde - ein figürliches Motiv auf, das freilich keineswegs historisiert (also mit dem Inhalt in Verbindung stehend) ist. Zudem ist das Frontalgesicht winzig und an einer peripheren Stelle angebracht.
Unmittelbare motivische Parallelen im Ornament sind auch bei diesem Stück nicht festzustellen. Solche unmittelbaren Übereinstimmungen bestehen freilich zwischen dem Fleuronnée der historisierten Initiale im Register (Reg. vat. 15, fol. 65r) und der Initiale eines 1235 August 27 ausgestellten Privilegs (dort weitere Hinweise). - Die bisherigen Vergleiche haben gezeigt, dass die Definierung einzelner Hände schwierig ist, da Parallelen im Figürlichen nicht zwingend bedeuten, dass auch im Fleuronnée identische Motive verwendet werden. Die Verwendung identischer (oder abweichender) Motive bedeutet aber ebenfalls nicht, dass sich daraus eine Handgleichheit ergeben muss bzw. ausgeschlossen werden kann.
Geht man von Fleuronnée-Motiven aus, die in dem hier behandelten Privileg vorkommen, böte sich eine Littera von 1234 Mai 5 für St. Gallen an. Auffallend ist der besäte Grund, aber auch der innen wie aussen ähnlich gestaltete Besatz mit Halbpalmetten, deren Stiele mitunter lang sein können. Eine Littera von 1230 September 12 für den Deutschen Orden könnte in Bezug auf die besatzartige Organisation des Fleuronnée und den besäten Grund einerseits und den relativ kompakten (muschelartigen) Halbpalmettenformen eine Mittelstellung einnehmen und insinuieren, dass doch viele der hier benannten Stücke von einer Hand stammen könnten, so wie die figürlichen Motive vermuten liessen.
Parallelen, die auch den "pointing finger" als charakteristisches Fleuronnée-Motiv, das zeitgleich vor allem in Nordwesteuropa häufig auftritt, zeigen, sind derzeit aus der kurialen Überlieferung noch nicht bekannt. - Stellung des Privilegs innerhalb der illuminierten Urkunden
Illuminierte Urkunden, deren Dekor historisiert ist, also auf den Inhalt, Aussteller, Empfänger oder Rezipienten Bezug nehmen, sind selten. Die wenigen frühen Stücke haben in der Regel keinen inneren Zusammenhang: vergleiche https://www.monasterium.net/mom/index/illurk-vocabulary/Historiated.
Das hier vorgestellte Stück ist aus heutiger Sicht das älteste aus der päpstlichen Kanzlei.
Ob ein abschriftlich überliefertes Privileg Papst Nikolaus' II. von 1278 November 26 auch im Original (wenn dieses je existierte) illuminiert war, ist nicht mehr festzustellen (aber wohl unwahrscheinlich).
Das nächste Beispiel aus dem kurialen Umfeld stammt aus dem Jahr 1300 und ist mit dem Heiligen Jahr 1300 (1300 Februar 22) verbunden. Dabei steht zwar ein Papstbrief Bonifaz' VIII. im Hintergrund, eine originale Papsturkunde ist das Stück jedoch keineswegs (es ist im Grunde auch keine Urkunde im strengen Sinn). - Tatsächlich historisierte originale Ausfertigungen von Papsturkunden waren bisher erst aus dem 15. Jahrhundert bekannt: vgl. https://www.monasterium.net/mom/index/IllUrkGlossar/HistorisiertePapsturkunden. Das erste Beispiel, das im engeren Sinn mit Figuren eine Geschichte erzählt, hat Otfried Krafft vorgestellt und stammt von 1450 Mai 24 (zweite Ausfertigung) und betrifft die Heiligsprechung des Bernardin von Siena. Noch narrativer ist die Wiedergabe des Schneewunders, also der Gründungslegende von Santa Maria Maggiore in Rom (1477 Jänner 16).
- Illuminierte Urkunden als Herrschaftsinstrument
Wenn man den Text der Urkunde liest, dann handelt es sich um einen Gunsterweis des Dieners der Diener Gottes (servus servorum Dei) - zu den Urkunden für San Francesco in Assisi, die diese neu zu erbauende Kirche als Caput et mater des neuen Ordens bezeichnen, siehe ausführlich Werner Maleczek (2023).
Dass dieser Gnadenakt in der feierlichen Form eines Privilegs mundiert wurde, an dem neben dem ausstellenden Papst auch Kardinäle beteiligt waren, könnte sogar als Zeichen kooperativen Vorgehens gedeutet werden. Die Bildsprache weist jedoch in eine komplett andere Richtung. Die Kurie agiert gemeinsam und nutzt alle Mittel, um sich die neue Gemeinschaft unterzuordnen und in bestehende hierarchische Strukturen der klerikalisierten Amtskirche zu integrieren:
Der vermeintliche Diener anderer Gottesknechte ist um ein Vielfaches grösser als die Begünstigten dargestellt. Der Papst thront in voller Pontifikalkleidung frontal. Die Nachfolger des heiligen Franziskus sind klein, kniend und leicht zu übersehen. Dass der Aussteller über die Empfänger dominiert, wird durch das Bild deutlicher als durch den Text.
Dass man auf Grund der speziellen Herausforderung, die das Leben des heiligen Franziskus den Herrschenden der Kirche gestellt hatte, bei der Formulierung des Urkundentextes vorsichtig sein wollte, leuchtet ein. Dass dies jedoch durch die Bildsprache wirkmächtig konterkariert wurde, wurde bisher noch nicht thematisiert.
Das vorliegende Stück ist ein bemerkenswertes Beispiel für das dialektische Auseinanderklaffen von Text- und Bildbotschaft. - Martin Roland
Bibliography:
- Luca Wadding, Annales Minorum Seu Trium Ordinum a S. Francisco Institutorum, Rom 1732, Band 2, S. 232f. (nach der Abschrift im Register Gregors IX; Rom, Città del Vaticano, Archivio Apostolico Vaticano, Reg. Vat. 15, fol. 14rv)
- Bullarium Franciscanum romanorum pontificum (...), Band 1: Ab Honorio III ad Innocentium IIII, Rom 1759, S. 60-62, Nr. XLIX
- Potthast 1, S. 733, Nr. 8536. (Vollzitat auf Zotero)
- Werner Maleczek, Ein unbeachtetes Abbild Gregors IX. auf dessen Privileg für die Minoriten Is qui ecclesiam suam vom 22. April 1230 (Assisi, Archiv des Sacro Convento), in: Franciscana: Bollettino della Società internazionale di studi francescani 25 (2023), S. 15-61 und Taf. 1-5.
- https://fotosacroconvento.omeka.net/items/show/550 (Bild der Initiale)
- http://telma-chartes.irht.cnrs.fr/bullarium-franciscanum/notice/151534
- https://www.monasterium.net/mom/IT-ASC/Boll/11/charter (ohne Bild; nach Inventario e regesti dell´archivio del sacro convento d´Assisi, a cura di Silvestro Nessi (= Fonti e Studi Francescani III/Inventari 2, Padova 1991)
- Die Kenntnis dieses bedeutenden Stückes verdankt das Projekt Illuminierte Urkunden Werner Maleczek.
Language:
Places
- Italien (Kurie)
- Type: Region
- Rom
Persons
- Papst Gregor [IX.]
Keywords
- Illuminated Charters: Niveaus:
- N1: drawn
- N1: historiated
- N1: Initials
- N2: Display script (with decorative character)
- N2: Penwork(Fleuronnée)
- N3: Benevalete
- N3: Rota
- Glossary of illuminated charters (in German):
- Historisierte Papsturkunden
Illuminierte Urkunden 1230-04-22_Assisi, in: Monasterium.net, URL </mom/IlluminierteUrkunden/1230-04-22_Assisi/charter>, accessed at 2024-12-23+01:00
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